Rechtssprechung

Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche möglich ist


Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden

 

I Materielles Strafrecht


§§ 113, 240 StGB – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Nötigung; hier: Festkleben auf der Fahrbahn. Der A wird vorgeworfen, sich in der Zeit von ca. 8:00 Uhr bis 09:16 Uhr im Rahmen der Straßenblockade der Gruppierung „Aufstand der letzten Generation“ auf eine Fahrbahn gesetzt zu haben, um die auf der betreffenden Straße befindlichen Fahrzeugführenden bis zur Räumung der Blockade durch die Polizei an der Fortsetzung ihrer Fahrt zu hindern. Zudem soll sie ihre rechte Hand mit Sekundenkleber auf die Fahrbahn geklebt und dadurch die von ihr erwarteten polizeilichen Maßnahmen zur Räumung der Blockade erschwert haben.


Beim Festkleben mit der Hand auf einer Fahrbahn im Rahmen einer Straßenblockade, um Fahrzeugführer an ihrer Weiterfahrt zu hindern, bis die Blockade durch Polizeieinsatzkräfte geräumt wird, besteht hinreichender Tatverdacht hinsichtlich Nötigung und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte. (LG Berlin, Beschl. v. 21.11.2022 – 534 Qs 80/22)


§ 176 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, § 184h Nr. 1 StGB – Sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Kuss auf den Mund eines Kindes. Der an einer pädophilen Störung und einer dissozialen Persönlichkeitsstörung leidende Angeklagte (A) wurde wegen mehrerer Delikte verurteilt, nach Teilhaftverbüßung die Maßregel zur Bewährung ausgesetzt und A aus dem Maßregelvollzug entlassen, obwohl „eine wesentliche Verbesserung der Persönlichkeitsproblematik“ trotz einer seit Jahren andauernden Psychotherapie nicht erreicht werden konnte. In der Folgezeit „bewarb“ sich A als „Kinderbetreuer“ über Ebay-Kleinanzeigen, betreute in der Folge selbige, nahm Kinder aber auch absprachewidrig mit in seine Wohnung. Er küsste die Kinder auf Stirn und Wange. Für wenige Sekunden auch auf den Mund und schlug mit der flachen Hand auf das bekleidete Gesäß.


Sexuelle Handlungen sind an einem Kind mit Körperkontakt vorgenommene Handlungen, wenn diese bereits objektiv die Sexualbezogenheit erkennen lassen, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild. Auch Tätigkeiten, die für sich betrachtet nicht ohne Weiteres einen sexuellen Charakter aufweisen, können tatbestandsmäßig sein. Abzustellen ist auf das Urteil eines objektiven Betrachters, der alle Umstände des Einzelfalles kennt. Hierzu gehören auch die Zielrichtung des Täters und seine sexuellen Absichten. Der entsprechende Sexualbezug kann sich beispielsweise aus der den A leitenden Motivation ergeben, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen (hier: verurteilter Pädophiler bewirbt sich als Babysitter). Auch ein nur wenige Sekunden dauernder Kuss auf den Mund eines 9-jährigen Kindes kann daher verbunden mit einem Schlag auf dessen Gesäß nach objektiven Kriterien eine sexuelle Handlung darstellen, wenn der Täter das Opfer abredewidrig in seine Privatsphäre verbrachte. (BGH, Urt. v. 18.1.2023 – 5 StR 218/22)


§ 176 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, § 184h Nr. 1 StGB – Sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Einspritzen von Wasser in den Anus eines Kindes. Der A verfolgte ein Kind und spritzte es mit einem handelsüblichen Wasserschlauch ohne Aufsatz nass. Er packte den sich wehrenden Jungen und legte ihn bäuchlings über seine Knie, drückte das Schlauchende zwischen die Pobacken und spritzte ihm – wie zuvor bereits zu anderer Gelegenheit angekündigt – für wenige Sekunden Wasser in den Anus und weiter in den Enddarm. Nachdem er ihn losgelassen hatte, rannte das Kind weinend davon, wobei er seinen Darm unkontrolliert auf den Rasen entleerte.


Nach diesen Maßstäben stellt das Einspritzen von Wasser in den Anus eines Kindes mittels eines fest zwischen den Pobacken angesetzten Gartenschlauches bereits unter Heranziehung ausschließlich objektiver Kriterien eine sexuelle Handlung dar. Die Motivation des Täters ist unerheblich. (BGH, Urt. v. 3.5.2022 – 3 StR 481/21)


§ 177 Abs. 1 StGB - Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung; hier: „Stealthing“. Der Angeklagte (A) und eine Besucherin (B) wollten in seinem Schlafzimmer geschlechtlich verkehren. Nach einvernehmlichem Oralverkehr ging der A an eine Kommode, holte sichtbar ein Kondom heraus und öffnete die Verpackung. Ihm kam es darauf an, dass die B davon ausging, er werde es beim Geschlechtsverkehr überziehen. Tatsächlich beließ er es aber ausgepackt und nicht abgerollt im Bett. B sah dies nicht und ging davon aus, er werde das Kondom benutzen. Ungeschützter Geschlechtsverkehr wäre für sie nicht in Frage gekommen. Der A führte sodann bewusst ohne Kondom vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr durch. Später bemerkte sie, dass er kein Kondom trug und verließ schließlich die Wohnung.


Stimmt eine Person Geschlechtsverkehr ersichtlich nur unter der Voraussetzung zu, dass dabei ein Kondom genutzt werde, stehen ohne Präservativ vorgenommene sexuelle Handlungen ihrem erkennbaren Willen entgegen und sind als strafbarer sexueller Übergriff zu werten. Dabei braucht ein entgegenstehender Wille nicht ausdrücklich erklärt zu werden. Eine konkludente Äußerung genügt. Der Entscheidung der betroffenen Person, keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr zu wollen, liegt grundsätzlich keine Fehlvorstellung zugrunde, wenn der Täter vorspiegelt, diesem Wunsch nachzukommen; denn dadurch ändert sich nichts an der ablehnenden Haltung gegenüber einem Sexualkontakt ohne die Nutzung eines Kondoms. (BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22)


§ 221 StGB – Aussetzung; hier: Obhuts- und Beistandspflicht. Zusammen fuhren die Angeklagten (A) und das spätere Opfer (O), am Abend in eine Bar. Sämtliche Beteiligte konsumierten an den Wochenenden regelmäßig beträchtliche Mengen an Alkohol, nicht selten bis zum Eintritt von Rauschzuständen. Bereits während der Anfahrt tranken sie. In der Bar dann Wodka, bis der O letztlich auf dem Weg zur Toilette stürzte, die glühende Kohle einer Shisha-Pfeife mit der bloßen Hand aufnahm, vom Stuhl rutschte und eine Zeit lang auf dem Boden liegen blieb. Nach dem gemeinsamen Verlassen der Bar stürzte O eine Böschung hinab und blieb bäuchlings am Ufer eines Flutkanals liegen, wo die A ihn wenig später fanden und ihn filmten. Dieser äußerte: „Mir geht’s nicht gut“. Obwohl den A bewusst war, dass sich der O nicht mehr selbständig helfen konnte, unternahmen sie nichts. O konnte sich in der Folge nur noch kurzzeitig mit unkontrollierten Bewegungen über Wasser halten, entfernte sich dann aus dem Sichtfeld der A und ertrank innerhalb der nächsten Minuten.

 

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