Recht und Justiz

„Gefahr gebannt, Strafverfolgung verkannt?“

Das Spannungsfeld zwischen zeitgleicher Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Rahmen von Polizeieinsätzen

 

4 Güter- und Pflichtenabwägung im Rahmen des Legalitätsprinzips


Das im Rahmen der Strafverfolgung geltende Legalitätsprinzip verpflichtet zwar zum Einschreiten beim Vorliegen des Anfangsverdachts einer Straftat. Hieraus ergeben sich jedoch keine Vorgaben, welche Ermittlungen zu welchem Zeitpunkt vorzunehmen sind. Vielmehr gilt der Grundsatz, dass die Ermittlungsgestaltung frei erfolgen kann, soweit nicht bestimmte Vorgehensweisen vorgeschrieben oder zwingend sind.13 Auch kann das erkennbare Einschreiten zeitweise aufgeschoben werden, zum Beispiel aus kriminaltaktischen Gründen, etwa um Hintermänner, Drahtzieher und sonstige wichtige Beteiligte ausfindig machen zu können14 oder auch, wenn es bei Abwägung aller Umstände zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter gerechtfertigt und erforderlich ist.15 In einer akuten, anders nicht abwendbaren Notstandssituation kommt etwa in Betracht, die Intensität von Ermittlungshandlungen zurückzunehmen oder sie zeitlich zurückzustellen, wenn nicht die Gefahr besteht, dass dadurch die Aufklärung praktisch gänzlich vereitelt oder wesentlich erschwert würde. Letzteres ist allenfalls dann in Kauf zu nehmen, wenn bei der kompromisslosen Durchführung des Legalitätsprinzips durch sofortiges Einschreiten Leib oder Leben unbeteiligter Dritter gefährdet würden. In solchen Fällen können die Interessen akuter Gefahrenabwehr den Vorrang vor dem zeitlich unmittelbaren Aufklärungsinteressen haben.16


Eine entsprechende Regelung findet sich auch in den Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV). So wird in Anlage A, Abschnitt III. für ein Zusammentreffen der beiden Pflichten ausgeführt, „in diesem Falle ist nach dem Grundsatz der Güter- und Pflichtenabwägung jeweils für die konkrete Lage zu entscheiden, ob die Strafverfolgung oder die Gefahrenabwehr das höherwertige Rechtsgut ist.“ Ein etwaiger Vorrang gefahrenabwehrrechtlicher Maßnahmen kann dabei aus den genannten Gründen jedoch immer nur temporärer Natur sein. Ferner kann eine Zurückstellung strafverfolgender Tätigkeit grundsätzlich nur dann in Betracht gezogen werden, wenn seitens der eingesetzten Polizeikräfte die jeweils voraussichtlich erforderlichen und zumutbaren personellen und organisatorischen Maßnahmen getroffen worden sind, um beiden Aufgaben gerecht werden zu können. Ist dies der Fall, so sind in erster Linie das Ausmaß und die Intensität der Gefahr für die öffentliche Sicherheit, der durch sofortigen polizeilichen Einsatz begegnet werden muss, auf der einen Seite und andererseits die Schwere der aufzuklärenden Straftat und die Gefährdung des Aufklärungserfolgs, die durch den Verzicht auf die an sich gebotenen Maßnahmen des ersten Zugriffs zu befürchten ist, abzuwägen. Gegebenenfalls müssen nach ersten Sicherungsmaßnahmen auch weniger vordringliche Maßnahmen der Gefahrenabwehr zurückgestellt werden, um dringliche Strafverfolgungsmaßnahmen vorzunehmen. Eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder eine entfernte Gefahr für die öffentliche Sicherheit rechtfertigt eine Zurückstellung von Strafverfolgungsmaßnahmen hingegen regelmäßig nicht.17 Sollen Gefahrenabwehrmaßnahmen daher vorrangig erfolgen, muss zuvor das Bestehen einer konkreten Gefahr, so genau wie in der Situation möglich, geprüft werden. Im vitalen Eigeninteresse der beteiligten Polizeibeamten sollte ferner in der Einsatznachbereitung eine ausführliche schriftliche Dokumentation der getroffenen Entscheidung erfolgen, um etwaige disziplinarrechtlich relevante Vorwürfe hinsichtlich der zeitweise unterbliebenen Strafverfolgungsmaßnahmen entkräften zu können.

 

5 Fazit


Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass aufgrund des im Rahmen der Strafverfolgung geltenden Legalitätsprinzips weder Polizei noch Staatsanwaltschaft generell von der Strafverfolgung absehen kann. Dies gilt selbst dann, wenn eine Gefahr für Leib und Leben Dritter oder Polizeibeamter besteht. In diesen Fällen kann jedoch ein temporärer Vorrang des Gefahrenabwehrrechtes bestehen. Ein solcher ist im Rahmen einer umfassenden Güter- und Pflichtenabwägung zu prüfen. Dies gilt bei konkreter Gefährdung von Leib und Leben Dritter ausnahmsweise auch dann, wenn dadurch die Aufklärung der Straftat wesentlich erschwert würde. Die Polizei muss aber stets alle erforderlichen und zumutbaren personellen und organisatorischen Maßnahmen getroffen haben, um sowohl den Aufgaben der Gefahrenabwehr als auch der Strafverfolgung gerecht werden zu können. Nur dann kann eine Abwägung zu Gunsten oder zu Lasten einer der beiden Pflichten erfolgen. Um das Risiko potentieller Missverständnisse und Komplikationen im Zuge einer solchen Entscheidung zu minimieren, sollte stets eine ausführliche Kommunikation der getroffenen Maßnahmen sowohl bei den eingesetzten Polizeieinheiten als auch gegenüber der Staatsanwaltschaft erfolgen. Ferner bietet es sich an, sobald eine Pflichtenkollision absehbar wird, unverzüglich die Staatsanwaltschaft zu kontaktieren, um diese in den Entscheidungsprozess einzubeziehen.

 

Anmerkungen

 

 

  1. Dr. Sören Pansa ist bei der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein und Christian Schiller bei der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Flensburg tätig. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung der Verfasser wieder.
  2. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 1982 – 2 BvR 8/82 –, NStZ 1982, 430.
  3. Vgl. MüKoStPO/Peters, 2. Aufl. 2024, StPO § 152 Rn. 3.
  4. BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2020 – 2 BvR 1763/16 –, NJW 2020, 675.
  5. BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2014 – 2 BvR 2699/10 –, BeckRS 2014, 59593 Rn. 13, 14.
  6. Vgl. MüKoStPO/Peters, 2. Aufl. 2024, StPO § 152 Rn. 70.
  7. Vgl. Markus Mavany in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 152, Rn. 25.
  8. Bauer in Göhler, OWiG, 19. Aufl. 2024, § 47 Rn. 1, 6.
  9. Vgl. BeckOK PolR NRW/Kugelmann, 27. Ed. 1.11.2023, PolG NRW § 3 Rn. 7, 8.
  10. Vgl. zu den verschiedenen Ansichten mit zahlreichen Nachweisen Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2020, VersammlG § 17a Rn. 39.
  11. Vgl. mit weiteren Nachweisen BGH, Urteil vom 26.4.2017 − 2 StR 247/16 –, NStZ 2017, 651; BGH, Urteil vom 10. Juni 2021 – 5 StR 377/20 –, zitiert nach juris.
  12. So bereits BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 1977 – 2 BvR 631/77 –, BVerfGE 46, 214-224, Rn. 31, 32.
  13. Vgl. MüKoStPO/Peters, 2. Aufl. 2024, StPO § 152 Rn. 71.
  14. Vgl. etwa BGH, Urteil vom 6. Januar 2022 – 5 StR 2/21 –, NStZ-RR 2022, 140.
  15. Vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar zur StPO, 65. Aufl. 2022, § 152, Rn. 6.
  16. Vgl. Markus Mavany in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 152, Rn. 25.
  17. Vgl. Erb in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2018, § 163 StPO, Rn. 36; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, 129.

 

 

 

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