Recht und Justiz

Familienrechtliche Verfahren unterlaufen zu oft strafrechtliche Ermittlungen und gefahrenabwehrende Maßnahmen nach häuslicher Gewalt

Von PD a.D. Rainer Becker und Dana Zelck, Berlin/Güstrow¹

 

4 Eine alle Zweifel ausräumende Entscheidung des EuGHMR


Die Sichtweise der Verfasser wird durch eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg untermauert.8 Das Gericht machte deutlich, was es von der beschriebenen Rechtspraxis in an die Konvention gebundenen EU-Staaten hält. Das Urteil beschäftigte sich mit der Beschwerde einer Mutter zweier Kinder aus Italien, Nach häuslicher Gewalt gegen sie (nicht gegen die Kinder) und Problemen der Organisation des begleiteten Umgangs durch staatliche Stellen und nach wiederholten verbalen Aggressionen des Vaters gegenüber der Mutter, hatte diese die Umgänge abgebrochen. Das führte dazu, dass das zuständige italienische Familiengericht das Sorgerecht auf den (alkohol- und drogenabhängigen) Vater übertrug, ohne die Umgangsbegleiter, die mehrfach Zeugen des aggressiven Verhaltens des Vaters geworden waren, auch nur anzuhören. Laut EGMR verstößt diese Entscheidung gegen Art. 31 der Istanbul-Konvention. In dem Urteil heißt es, dass ein Gericht gegen seine Pflicht zur Sachaufklärung und Sicherstellung des Kinderschutzes verstößt, wenn es im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt Hinweisen auf aggressives Verhalten eines Vaters im Rahmen des Umgangs mit seinem Kind nicht nachgeht und nicht sicherstellt, dass die Umgänge in einer geschützten Umgebung stattfinden. Nach Ansicht der Straßburger Richter hätte das Familiengericht aufgrund der vorangegangenen häuslichen Gewalt gegen die Mutter den Hinweisen auf das aggressive Verhalten des Vaters im Zusammenhang mit den Umgängen nachgehen müssen, um die Kinder zu schützen.


Weiter heißt es in dem EGMR-Urteil: „Die Sicherheit des gewaltbetroffenen Elternteils und seiner Kinder muss zentrales Kriterium für Entscheidungen zur elterlichen Sorge und des Umgangs sein.“ Und weiter: „Wenn Frauen, die häusliche Gewalt als Grund für die Ablehnung der gemeinsamen Sorge und Umgänge vorbringen, von Gerichten wie dem in Italien (Anm.: und vielfach in Deutschland) deshalb als ‚nicht kooperativ‘ und als ‚ungeeignete Mütter‘ angesehen und sanktioniert werden, bereitet dem EuGMR eine solche Praxis Sorge“.9


Für die Verfasser ist das Urteil ein unmissverständlicher Handlungsauftrag, und dies nicht nur für das Land Italien, sondern auch in Bezug auf eine in Deutschland oftmals äußerst zweifelhafte Rechtspraxis. Dies wird auch durch den aktuellen deutschen GREVIO-Bericht unterstrichen. Der Bericht dient der Dokumentation der Überprüfung der Einhaltung der im Übereinkommen festgelegten Forderungen durch einen entsprechenden Monitoring-Mechanismus durchgeführt von einer Expertengruppe namens GREVIO (Group of experts on action against violence against women and domestic violence). Die mindestens 10 und maximal 15 Mitglieder von GREVIO werden vom Ausschuss der Vertragsparteien für eine Amtszeit von vier Jahren (max. zwei Amtszeiten) gewählt.


Im aktuellen Bericht kommen die Experten zu dem Ergebnis, dass das Kindschaftsrecht in Deutschland keine ausdrückliche Verpflichtung vorsieht, bei Entscheidungen über Sorge- und Umgangsrecht, Gewalttaten zu berücksichtigen, obwohl es das Übereinkommen (IK) vorgibt. Darin heißt es: GREVIO begrüßt zwar die Ratifizierung der Istanbul-Konvention durch Deutschland und die Bemühungen um deren Umsetzung, hat jedoch eine Reihe weiterer Probleme identifiziert, die dringend von den Behörden angegangen werden müssen, um die Bestimmungen der Konvention in vollem Umfang zu erfüllen. Diese betreffen die Notwendigkeit, häufiger von einer einstweiligen Verfügung Gebrauch machen, um das Recht von Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt sind, und ihrer Kinder auf Sicherheit zu schützen, u.a. indem Kindern die Möglichkeit gegeben wird, von einer einstweiligen Verfügung Gebrauch zu machen, und indem für die Dauer der einstweiligen Verfügung keine Ausnahmen vom Verbot des Kontakts zwischen dem missbräuchlichen Elternteil und dem Kind zugelassen werden; die Verfügbarkeit einer ganzheitlichen und landesweiten Unterstützung für Kinder, die Zeugen einer der unter das Übereinkommen von Istanbul fallenden Formen von Gewalt gegen Frauen geworden sind, zu verbessern, idealerweise im Rahmen einer einzigen Anlaufstelle. Ungeachtet dessen wird in dem Bericht festgestellt, dass seit dem Inkrafttreten der Istanbul-Konvention kein nationales politisches Dokument bzw. keine nationale Strategie entwickelt wurde, in dem/der auf zentraler Ebene gemeinsame Definitionen von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt festgelegt werden und in dem/der landesweit Ziele zur Förderung der Umsetzung der Konvention gesetzt werden, wobei die Rechte der Opfer in den Mittelpunkt aller Maßnahmen gestellt werden und dem geschlechtsspezifischen Charakter der verschiedenen Formen derartiger Gewalt gebührend Rechnung getragen wird. Die Mehrzahl der Länder, wenn nicht sogar alle, haben auf ihrer Ebene Aktionspläne verabschiedet, die verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen abdecken und als Leitfaden für weitere Maßnahmen dienen, deren Umfang und Definitionen jedoch variieren. Diese sind zwar zweifellos wichtig, können aber ein umfassendes nationales politisches Dokument nicht ersetzen, in dem allgemeine Grundsätze und Definitionen festgelegt werden und somit ein strategischer Rahmen für die von allen relevanten Akteuren zu treffenden Maßnahmen geschaffen wird. Das Fehlen eines zentralen strategischen Rahmens für die Umsetzung der Istanbul-Konvention wird durch die Tatsache verschärft, dass bis heute keine nationale Koordinierungsstelle gemäß Art. 10 benannt oder eingerichtet wurde – eine Kernforderung der Konvention, die bisher in Deutschland noch nicht umgesetzt wurde.


Eine bessere Koordinierung bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention ist dringend erforderlich, um noch bestehende Mängel zu beheben, wie z.B. das uneinheitliche Ausbildungsniveau der verschiedenen Fachkräfte, die mit weiblichen Gewaltopfern zu tun haben, sowie das Fehlen systematischer Bemühungen zur Förderung der wirtschaftlichen Selbstbestimmung von Frauen, z.B. durch Arbeitsvermittlung und Bereitstellung von Sozialwohnungen. Durch das Fehlen einer Koordinierungsstelle und einer langfristigen, umfassenden Strategie, die ein landesweites, wirksames und koordiniertes Bündel von Maßnahmen bietet, kommt es auch zu Unzulänglichkeiten bei der Bereitstellung von Unterstützung und Schutz für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind.


Besonders deutlich wird dies an der unzureichenden Gewichtung von behördenübergreifender Zusammenarbeit und Risikobewertung. GREVIO hat die dringende Notwendigkeit erkannt, dass eine systematische und geschlechtersensible Risikobewertung und ein Sicherheitsmanagement zu einem Standardverfahren für alle beteiligten Stellen entwickelt werden muss, insbesondere im Zusammenhang mit Maßnahmen, die im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes ergriffen werden, wobei ein wirksamer behördenübergreifender Ansatz für eine solche Risikobewertung gewählt werden muss, um die Menschenrechte und die Sicherheit des einzelnen Opfers und der betroffenen Kinder zu gewährleisten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Zuständigkeit für die Bereitstellung von Diensten für Gewaltopfer in Deutschland bei den lokalen Behörden liegt, wird in dem Bericht festgestellt, dass die Anzahl und die Art der verfügbaren Dienste von Land zu Land sehr unterschiedlich sind, was auch für den Grad der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Stellen gilt. Davon betroffen sind vor allem junge Frauen und Mädchen, aber auch Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, sowie Frauen und Mädchen, die Opfer von Vergewaltigung und/oder sexueller Gewalt wurden.10


Auch was das Thema Sorgerecht nach Gewalt gegen ein Elternteil angeht, legt der GREVIO- Bericht klare Verstöße gegen die Regelungen des Übereinkommens offen. Schließlich weist der Bericht auf die dringende Notwendigkeit hin, dafür zu sorgen, dass die Ausübung eines Besuchs- oder Sorgerechts nach häuslicher Gewalt nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet, wie dies in Art, 31 des Istanbuler Übereinkommens gefordert wird. Bei der Entscheidung über das Sorgerecht und den Besuch von Kindern, einschließlich juristischer Fachkräfte und Kinderbeauftragter, ist eine stärkere Anerkennung der negativen Auswirkungen von Gewalterfahrungen zwischen den Elternteilen erforderlich. Mit dem Vorschlag für alternative Streitbeilegungsverfahren muss das Bewusstsein für die Machtungleichgewichte in Beziehungen, die durch Gewalt beeinträchtigt werden, erhöht werden, um sicherzustellen, dass Scheidungsregelungen oder Mediation die Sicherheit eines Opfers von Gewalt oder der seiner Kinder nicht gefährden.11


Kritisiert wird zudem das unklare Bild der Gewalttaten aufgrund mangelhafter statistischer Erhebungen, versehen mit einem konkreten Handlungsauftrag: „Die Statistiken der Familiengerichte liegen in Form einer jährlichen Veröffentlichung vor, in der unter anderem die Zahl der ergangenen Gewaltschutzanordnungen und das Geschlecht des Antragstellers und des Täters aufgeführt sind, nicht aber die Art der Gewalt, auf die sie sich beziehen, oder das Alter und die Beziehung der beteiligten Parteien. Sie enthält auch keine Daten über die Zahl der Entscheidungen über das Sorgerecht/Besuchsrecht/Aufenthalt der Kinder, die ausdrücklich die Berichte über häusliche Gewalt berücksichtigen und die Sicherheit aller Familienmitglieder gewährleisten.“12


Zudem erinnert der GREVIO-Bericht an das Verbot verpflichtender alternativer Streitbeilegungsverfahren oder Strafurteile (Art. 48 IK). Hier fordert GREVIO die deutschen Behörden dazu auf, die erforderlichen legislativen und sonstigen Maßnahmen zu ergreifen, wie etwa Schulungen und Sensibilisierung der Justiz und aller anderen an Entscheidungen über das Sorgerecht beteiligten Personen, um sicherzustellen, dass das Verbot der verpflichtenden Streitbeilegung und Mediation im Straf- und Zivilrecht in Fällen, die eine der unter die Istanbul-Konvention fallenden Formen von Gewalt betreffen, in der Praxis angewandt wird. GREVIO fordert die deutschen Behörden dazu auf, das Bewusstsein aller an Gerichtsverfahren beteiligten Fachleute für die Machtungleichgewichte in gewaltbehafteten Beziehungen weiter zu stärken, damit sie dies bei der Beurteilung, ob alternative Streitbeilegungsmaßnahmen vorgeschlagen werden sollen, berücksichtigen können. Vergleichs- oder Vermittlungsversuche dürfen niemals die Sicherheit eines Gewaltopfers oder seiner Kinder gefährden.13


Weiter heißt es: „In Sorgerechtsverfahren weisen einschlägige NGOs darauf hin, dass Vergleichsverfahren, Überweisungen an gerichtliche Gemeinschaftsberatung und Mediation die Regel sind und Fälle mit einer Vorgeschichte von Gewalt in der Partnerschaft nicht immer ausgeschlossen sind. GREVIO ist sich der Notwendigkeit bewusst, tragfähige Lösungen für das Sorgerecht und das Umgangsrecht nach der Trennung der Eltern zu finden, und dass einvernehmlich getroffene Entscheidungen einer gerichtlichen Regelung vorzuziehen sind. GREVIO weist darauf hin, dass Praktiken, die ein gemeinsames Treffen mit dem misshandelnden Elternteil erforderten, um eine Entscheidung über das Sorgerecht, den Aufenthalt oder das Umgangsrecht des Kindes zu treffen, einer obligatorischen Mediation gleichkommen könnten. GREVIO hat wiederholt seine Besorgnis über Praktiken zum Ausdruck gebracht, die es nicht erlauben, Gewaltvorfälle zwischen Elternteilen ausreichend zu untersuchen, bevor sie an Mediation und gerichtliche gemeinsame Beratung verwiesen werden. Wenn die Parteien verpflichtet sind, sich vor der Trennung einer Mediation zu unterziehen – wie dies offenbar in Deutschland der Fall ist – müssen ausreichende Schutzvorkehrungen getroffen werden, die es ermöglichen, Fälle aufzudecken und zu prüfen, bei denen es sich nicht nur um direkte Gewalt gegen das Kind, sondern auch um Gewalttaten eines Elternteils gegen den anderen handelt. GREVIO stellt mit Besorgnis fest, dass in der deutschen Justiz die schädliche Wirkung von Gewalt auf Frauen in intimen Beziehungen, die zu Verhandlungen mit dem Täter aufgefordert werden, aber auch auf Kinder, die Zeugen der Gewalt sind, missachtet wird, was dazu führt, dass solche Fälle an Beratung und Mediation verwiesen werden. Berichte über Frauen, die schwerwiegende Auswirkungen (z.B. dass sie als ungeeignet für die Elternschaft eingestuft werden) erleiden, weil sie sich aus Angst um ihre Sicherheit weigern, an den gemeinsamen Meetings teilzunehmen und nicht gleichberechtigt mit dem Täter in den Prozess eintreten können, stellen für GREVIO ein ernstes Anliegen dar.“14

 


Junge Mutter als Opfer häuslicher Gewalt.