Wissenschaft  und Forschung

Europa zwischen „ewigem Frieden“ und „Kaltem Krieg“

Von Dr. Udo Baron, Hannover*


Ende 1989, Anfang 1990 fegte die friedliche Revolution die DDR hinweg. Parallel dazu kollabierten die übrigen Länder des realen Sozialismus bis schließlich auch die Sowjetunion an Weihnachten 1991 aufhörte zu existieren. Der „Kalte Krieg“ zwischen der Sowjetunion und den USA war beendet. Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion wurde vom Feindbild zum Partner. Zur Integration Russlands in die westliche Wertegemeinschaft wurde der NATO-Russland-Rat eingerichtet. Selbst eine Aufnahme Russlands in die NATO schien damals vorstellbar. Gelder, die bislang in die Rüstung flossen, sollten nunmehr – so hoffte man – als Friedensdividende vor allem sozialen und ökologischen Projekten zugutekommen. Mit dem Siegeszug der liberalen Demokratie über den sowjetischen Totalitarismus schien das „Ende der Geschichte“, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama formulierte, in greifbare Nähe gerückt zu sein. Der von dem Philosophen Immanuel Kant erträumte „ewige Friede“ schien plötzlich real.


Doch mit den jugoslawischen Nachfolgekriegen und dem ersten Tschetschenienkrieg 1999 bekam dieser Traum Risse. Der kurz zuvor an die Macht gelangte russische Ministerpräsident Waldimir Putin, ein früherer KGB-Agent und bisheriger Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, ließ mit äußerster Brutalität die Hauptstadt Grosny in Schutt und Asche legen. Dass diese Vorgehensweise kein „Ausrutscher“ war, zeigte der fünftägige Krieg Russlands gegen die frühere Sowjetrepublik Georgien im August 2008, später dann die gezielte Bombardierung syrischer Städte im dortigen Bürgerkrieg. Dennoch vertraute der Westen getreu dem Motto „Wandel durch Handel“ darauf, durch ökonomische Kooperation mit dem größten Flächenland der Erde nicht nur an günstige Rohstoffe zu kommen, sondern dadurch Russland auch politisch-militärisch einzuhegen. Spätestens der seit dem 24. Februar 2022 andauernde russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch dem letzten Optimisten vor Augen geführt, dass der Westen Tagträumen vom „ewigen Frieden“ anhing, die jeglichen realen Rückhalt entbehrten.


Wie schon 1989/90, so leitete der Ukrainekrieg erneut eine Zeitenwende ein. Die alte Weltordnung ist vergangen, eine neue zeichnet sich noch nicht am Horizont ab. Russland hat mit seinem Angriffskrieg das Völkerrecht gebrochen, die regelbasierte Ordnung verlassen und sich offen gegen die Werte und Normen des zivilisatorischen Zusammenlebens positioniert. Es hat sich vom Partner des Westens zum systemischen Gegner entwickelt. Jegliches Vertrauen in und jegliche Zusammenarbeit mit Putins Russland ist auf lange Sicht passé. Russland wiederum hat sich mit seiner Verachtung gegenüber den westlichen Werten diesem zunehmend entfremdet und ist mittlerweile auf dem Weg zum westlichen Vorposten einer östlichen Großmacht zu werden: China. So wie das mit Russland verbündete Belarus und sein Diktator Alexander Lukaschenko schon längst zur Marionetten Russlands degeneriert sind, so hat mittlerweile auch Putin kaum mehr einen Spielraum gegenüber China, da sein Land auf die politische, wirtschaftliche und womöglich auch militärische Hilfe Chinas angewiesen ist. China wiederum benutzt Russland als Vorposten gegenüber der NATO. Der chinesische Präsident Xi Jinping behandelt dabei Putin zunehmend als seinen „Pudel“, so wie Putin wiederum Lukaschenko als sein „Schoßhündchen“ betrachtet. Vor diesem Hintergrund hat sich schon seit Jahren der Konflikt zwischen den USA und China verschärft. Ein neuer „Kalter Krieg“, diesmal zwischen den USA und seinen Verbündeten auf der einen Seite und China und seinen Alliierten auf der anderen, hat begonnen.


Der neue „Kalte Krieg“ wird jedoch ein anderer sein, als derjenige aus den Zeiten der Systemkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion im 20. Jahrhundert. Oberflächlich betrachtet scheint er auf den Spuren seines Vorgängers zu wandeln. Die Vereinigten Staaten bilden wie zuvor so auch im 21. Jahrhundert mit den westlichen Demokratien den bündnispolitischen Zusammenschluss namens NATO. Russland ist seit dem Überfall auf die Ukraine erneut zum Gegner geworden. Damit hören aber die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Im Gegensatz zum ersten „Kalten Krieg“ verfügt Russland gegenwärtig über keine vergleichbaren Bündnisse wie sie die UdSSR mit den Ländern des Warschauer Pakts und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe hatte. Vielmehr sind die Bündnispartner von einst heute weitgehend Mitglieder der NATO und der EU. Russland seinerseits orientiert sich im Zuge des von ihm angezettelten Ukrainekrieges weiter nach Osten und paktiert immer offener mit den kommunistischen Diktaturen in China und Nordkorea.


Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist heutzutage nicht mehr Russland, sondern China der „systemische Rivale“ des Westens in einem neuen Kalten Krieg geworden. Die atomar hochgerüstete zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt versucht schon seit Jahren global ihren Einfluss zu steigern und expandiert dabei ökonomisch – u.a. im Rahmen ihres Projekts „neue Seidenstraße“ – nicht nur nach Afrika und Lateinamerika, sondern auch nach Europa. Ihr aggressives Vorgehen stellt dabei für den Westen gegenwärtig und künftig die größte Herausforderung dar, vor allem, sollte es zu einer Blockade oder gar zu einem Angriff Chinas auf Taiwan kommen.


Im Gegensatz zur Blockkonfrontation des 20. Jahrhunderts weist aber auch das westliche Bündnis zunehmend Risse auf – und die sind eng verbunden mit den Namen Donald Trump. Sollte er im November 2024 erneut zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt werden, wäre es möglicherweise nicht mehr selbstverständlich, dass die USA weiterhin als westliche Schutzmacht vorbehaltlos an der Seite der Europäer stünden. Ob sie den Verpflichtungen des NATO-Vertrages dann noch nachkommen, insbesondere der in Artikel 5 vereinbarten Beistandsverpflichtung bei dem Angriff einer feindlichen Macht auf einen Bündnispartner, scheint mittlerweile fraglich.

 

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