Wissenschaft  und Forschung

Migrantenkriminalität: Zum Stand der Dinge (Teil 2)

Von Prof. Dr. Bijan Nowrousian, Münster¹

 

6 Verschärfende Faktoren

 

6.1 Hellfeld

Um die Wirkung entlastend verzerrender Umstände überhaupt beurteilen zu können, bedarf es freilich eines in der kriminologischen Forschung eher selten gewagten Blicks, nämlich darauf, inwiefern verschärfende Faktoren existieren, die gerade dafürsprechen, dass Statistiken das Problem Migrantenkriminalität in seiner ganzen Größe richtig darstellen oder das Problem sogar noch umfangreicher ist, als es den Hellfeldstatistiken entnommen werden kann. Denn neben relativierenden Faktoren kann es auch solche geben, die den statistischen Hellfeldbefund bestätigen oder sogar nahelegen, dass dieser die wahren Dimensionen des Problems Migrantenkriminalität nicht etwa über-, sondern vielmehr nennenswert untertreibt. Auf solche „verschärfenden“ Faktoren soll im Weiteren eingegangen werden.


Zunächst einmal ergibt sich in bestimmten Deliktsfeldern auch unter Berücksichtigung aller relativierenden Faktoren ein so massives Übergewicht von ausländischen Tatverdächtigen, dass das schiere Ausmaß der Überrepräsentation dafürspricht, dass die genannten Gruppen in diesem Feld tatsächlich eine deutlich höhere Kriminalitätsbelastung haben als einheimische Deutsche. Dies gilt namentlich für den Bereich der organisierten Kriminalität, der dem statistischen Befund nach so weitgehend in Migrantenhand ist, dass darin eine bloße statistische Verzerrung nicht mehr gesehen werden kann. Denn auch noch so Hellfeld kritische Kriminologen werden wohl nicht behaupten wollen, es gebe ganze Heerscharen von unentdeckter inländischer organisierter Kriminalität, die, wäre sie nur entdeckt, den Migrantenanteil auf ein nicht mehr erhöhtes Maß fallen ließe. Dies gilt aber auch für andere Felder, in denen aus der polizeilichen Statistik ähnlich hohe oder sogar höhere Migrantenanteile bekannt sind, etwa bei den genannten Sexualdelikten, beim Taschendiebstahl sowie auch bei den immer häufigeren Krawallen.


Keineswegs nur entlastend, sondern durchaus auch verschärfend wirkt ferner das Anzeigenverhalten. Denn bei einigen Migrantengruppen finden inner-ethnische Strafanzeigen im Regelfall nicht statt. Dies gilt umso mehr, je gewaltgeprägter diese Milieus sind. Und es erfasst nach allem, was bekannt ist, auch schwere Delikte.42 Die Zahl der von Tätern mit Migrationshintergrund begangenen Gewalttaten dürfte also durch eine nennenswerte Zahl an nicht angezeigten Taten im Kontext von häuslicher oder sonst innerethnischer Gewalt deutlich höher sein.

6.2 Dunkelfeld

Soweit es das Dunkelfeld betrifft, folgt selbst nach demjenigen Teil des Schrifttums, der eine erhöhte Migrantenkriminalität insgesamt bestreitet, dass gerade im Problemfeld der Gewaltkriminalität die im Hellfeld festgestellte höhere Kriminalitätsbelastung bestimmter Gruppen im Dunkelfeld bestätigt wird – und zwar aus kulturellen und nicht vorrangig aus sozialen Gründen.


Denn eine höhere Kriminalitätsbelastung von Tätern mit Migrationshintergrund gebe es zwar angeblich nicht, aber „[…] wenn man gewalttätiges Verhalten isoliert betrachtet, ergeben einige Studien höhere Prävalenzen für Jugendliche mit Migrationshintergrund.“43 Im Zuge einer höheren Kriminalitätsbelastung mit Gewaltdelikten bei Tätern mit Migrationshintergrund wird mithin selbst in der eher bestreitenden kriminologischen Forschung überraschend eingeräumt, dass „gewaltlegitimierende Männlichkeitskonzepte“ und eine „Kultur der Ehre“ einerseits mit mehr Gewaltkriminalität korrelieren und andererseits solche Konzepte in bestimmten Migrantenmilieus deutlich verbreiteter sind als bei der inländischen Bevölkerung. Insoweit wird eine höhere Kriminalitätsbelastung bestimmter Migrantengruppen letztlich zugestanden,44 und dies gerade auch aus mental-kulturellen und nicht vorrangig aus sozialen Gründen. Die Migrantengruppen, bei denen in der Dunkelfeldforschung gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen und eine höhere Belastung mit Gewaltkriminalität festgestellt wurden, sind dabei vor allem türkische, nordafrikanische und ex-jugoslawische Einwanderer.45 Dies korreliert, zumindest statistisch, mit einem weiteren, in der kriminologischen Forschung jedenfalls in der Tendenz zugestandenen Aspekt: nämlich dem Umstand, dass Religiosität im Regelfall gewalthemmend wirkt, bei Muslimen in der Tendenz jedoch gegenteilig.46


Damit aber ist der Nachweis einer tatsächlich höheren Kriminalitätsbelastung der genannten Gruppen ja bereits geführt. Und geführt ist auch der Nachweis, dass es eben nicht nur um den sozialen Status oder um Alter und Geschlecht geht, sondern durchaus um Mentalität und Kultur. Es will sich nicht erschließen, inwieweit nicht wenige Kriminologen einerseits eine solche erhöhte Belastung mit Gewaltdelikten selbst zugestehen und dann andererseits im Kampf gegen die eigenen Forschungsergebnisse eine höhere Kriminalitätsbelastung der entsprechenden Gruppen verneinen.47


Es kommt hinzu, dass sich Hellfeldergebnisse und Dunkelfeldstudien bezüglich Gewalttaten damit nicht etwa unterscheiden, sondern gerade decken. Anders als etwa von Singelnstein behauptet, sind die polizeilichen Kriminalstatistiken zur Erfassung des Themenfelds „Ausländerkriminalität“ also nicht etwa ungeeignet, sondern recht instruktiv, denn sie ergeben genau das, was die Dunkelfeldforschung (und die Praxiserfahrung, auf die noch einzugehen sein wird) bestätigen.


In der Dunkelfeldforschung bestätigt wurde ferner auch der aus den Statistiken ablesbare Befund, dass Deutsche (ohne Migrationshintergrund) überdurchschnittlich oft Opfer und unterdurchschnittlich oft Täter von (besonders schweren) Straftaten sind. Eine Studie zu Gewalterfahrungen von Jugendlichen aus dem Jahre 2009 hierzu hat etwa ergeben, dass in nur 10,4% der Fälle deutsche Täter auf nicht-deutsche Opfer trafen, aber in 36,2% deutsche Opfer auf nicht-deutsche Täter.48 Ein besonders hoher Anteil von Gewalttätern entfiel dabei in der Stichprobe auf Türken, die nur 6% der Stichprobe, jedoch 23,8% der Gewalttäter ausmachten. Bei den Deutschen lag der Gewalttäteranteil bei 54,4%, der Anteil an der Stichprobe aber bei 73%.49 Besonders bedeutsam ist dabei die Erkenntnis, dass das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, für Schüler mit Migrationshintergrund unabhängig von ihrem Anteil an allen Schülern einer Klasse ist, für Deutsche hingegen genau davon abhängt. Mehr deutsche Schüler ohne Migrationshintergrund erhöhen das Risiko für Schüler mit Migrationshintergrund, Opfer von (Deutschen-)Gewalt zu werden, also nicht. Für die (indigenen) Deutschen verhält es sich hingegen genau umgekehrt: Die Gefahr, Opfer migrantischer Gewalt zu werden, nimmt kontinuierlich zu, je höher der Migrantenanteil in der Klasse ausfällt.50 Eine zahlenmäßige Übermacht wird von indigenen deutschen Schülern also offenbar nicht für Gewalttätigkeiten genutzt, von Schülern mit Migrationshintergrund indes in Teilen sehr wohl.

6.3 Deutsche mit Migrationshintergrund

Ein ganz entscheidender verschärfender Aspekt, der die Kriminalstatistik beim Thema Migrantenkriminalität noch deutlich weniger dramatisch aussehen lässt, als das Problem in Wahrheit ist, ist ferner die Nichterfassung von Deutschen mit Migrationshintergrund als Täter. Denn immer dann, wenn hier nachgebohrt wurde (etwa bei der Erfassung von Doppelstaatlern bzw. eingebürgerten Deutschen im Bereich der organisierten Kriminalität oder bei der expliziten Nachfrage nach dem Migrationshintergrund bei Krawallen wie in Stuttgart oder Berlin) ergibt sich recht verlässlich, dass zu dem ohnehin schon nennenswerten Anteil von Ausländern ein ebenso nennenswerter Anteil von Deutschen mit Migrationshintergrund als Tatverdächtige noch hinzukommt. Würde man dies systematisch statistisch erfassen (was bei Deutschen mit Migrationshintergrund in anderen Kontexten, etwa im Bildungswesen oder bei der Bevölkerungsstatistik, ja auch regelmäßig und unproblematisch geschieht), wäre also mit einem noch deutlich höheren Anteil von Tätern mit Migrationshintergrund zu rechnen. Das Hauptproblem mit den Statistiken ist also nicht, dass sie das Problem dramatisieren, sondern dass sie es klein rechnen.

6.4 Vielfache Alltagserfahrung

Eine erhöhte Kriminalitätsbelastung namentlich von jungen Männern mit Migrationshintergrund „Nahost“, „Schwarzafrika“ sowie in Teilen „Balkan“ und „Osteuropa“ ist schließlich die landauf, landab seit Jahrzehnten gemachte Alltagserfahrung von Polizei und Justiz. Ob eine solche Alltagserfahrung überhaupt relevante Quelle einer wissenschaftlichen Untersuchung sein kann, ist dabei, soweit ersichtlich, recht umstritten. Neubacher hat dies kategorisch ausgeschlossen.51 Singelnstein hingegen hält zumindest eine „vielfach gemachte“ Alltagserfahrung offenbar durchaus für eine relevante Erkenntnisart.52 Letzterem ist dabei zuzustimmen. Denn bei allen auf der Hand liegenden methodischen Problemen bei der Erfassung von Alltagserfahrungen ist Erfahrung selbstverständlich eine bedeutende Art, Kenntnis über die Welt und ihre Beschaffenheit zu erlangen, auf die die Wissenschaft schon um ihrer selbst und ihres Zieles willen keinesfalls verzichten sollte.