Recht und Justiz

„Gefahr gebannt, Strafverfolgung verkannt?“

Das Spannungsfeld zwischen zeitgleicher Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Rahmen von Polizeieinsätzen



Eine Grenze erfährt das Legalitätsprinzip im Strafverfahren durch das Opportunitätsprinzip. In § 152 Abs. 2 StPO heißt es dazu etwa: „Sie (die Staatsanwaltschaft) ist, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen“. Gesetzliche Bestimmungen, wonach ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft nicht zwingend geboten ist, ergeben sich z.B. aus den §§ 153 – 154e, 374, 376 StPO sowie § 45 JGG. Danach kann die Staatsanwaltschaft z.B. von der Verfolgung gewisser Delikte mangels öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung absehen.


Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine ausnahmslose Pflicht von Staatsanwaltschaft (§ 152 Abs. 2 StPO) und Polizeibehörden (§ 163 Abs. 1 StPO) besteht, Straftaten zu verfolgen, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt. Auch Verdeckte Ermittler und der nicht offen ermittelnde Polizeibeamte unterliegen als Personen, denen durch strafverfahrensrechtliche Bestimmungen die Aufgabe der Verfolgung von Straftaten zugewiesen sind, diesem Verfolgungszwang. Von einem Tätigwerden der Strafverfolgungsbehörden darf z.B. nicht mit der Argumentation, dem Tatverdächtigen drohe aus der Durchführung eines Strafverfahrens ein Nachteil, der in der Abwägung mit dem Strafanspruch des Staates ungleich schwerwiegender erscheint, abgesehen werden. Das Legalitätsprinzip gilt ohne Ansehung der Person und ohne Differenzierung nach Deliktsarten.6 Ein Abstandnehmen von der Strafverfolgung ist selbst dann unzulässig, wenn diese zu sozialem Unfrieden oder gar „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ führen könnte.7 Denn alles andere würde den Staat nicht nur erpressbar machen, sondern auch dessen Gewaltmonopol gefährden.

2.2 Handlungspflicht bei Ordnungswidrigkeiten

Anders verhält es sich im Rahmen der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten. Soweit es allein den Verdacht der Begehung einer solchen betrifft, findet ausschließlich das Opportunitätsprinzip Anwendung. § 47 Abs. 1 OWiG bestimmt diesbezüglich, dass die Verfolgung im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde liegt. Der Opportunitätsgrundsatz im Ordnungswidrigkeitenverfahren rechtfertigt sich aus der im Vergleich zu Straftaten weniger großen Bedeutung der Ordnungsverstöße. Ordnungswidrigkeiten gefährden die Rechtsordnung in kleinerem Maße und weisen einen geringeren Unrechtsgehalt auf als Straftaten. Daher kann bereits bei Vorliegen besonderer, nicht notwendig außergewöhnlicher, Umstände der Unrechtsgehalt des Verstoßes und das sich daraus ergebende Gefährdungspotenzial so gering sein, dass eine Verfolgung und Ahndung nicht geboten erscheint.8

2.3 Handlungspflicht im Rahmen des Gefahrenabwehrrechts

Auch im Rahmen des Gefahrenabwehrrechts gilt anders als bei der Strafverfolgung nicht das Legalitätsprinzip. Die durch die Polizeibehörden wahrzunehmende präventive Aufgabe der Gefahrenabwehr wird von dem Grundsatz der Opportunität geleitet und in der Konsequenz vom Prinzip der Ermessensentscheidung getragen. Die Gefahrenabwehrbehörden können bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen im Rahmen des ihnen zustehenden Ermessens über die Anwendung der entsprechenden Rechtsfolge entscheiden. Ausnahmen hiervon bestehen jedoch in den Fällen, in denen sich das polizeiliche Ermessen auf Null reduziert. In diesem Fall verdichtet sich aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles der Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung zu einem Anspruch auf ein Einschreiten.9

 

3 Verhältnis strafrechtliches Ermittlungsverfahren zum Gefahrenabwehrrecht


Das Verhältnis des strafprozessualen Legalitätsprinzips und Maßnahmen der Gefahrenabwehr ist weitgehend ungeklärt, soweit es die Beurteilung konkreter Einsatzgeschehen betrifft. Bezüglich des abstrakten Hierarchiekonstruktes hingegen werden nahezu sämtliche denkbar erscheinenden Varianten vertreten. So soll das strafprozessuale Legalitätsprinzip die Befugnisse zur Gefahrenabwehr nicht begrenzen, Strafverfolgung und Störungsbeseitigung stehen demnach gleichberechtigt nebeneinander. Eine Störungsbeseitigung im Sinne der Gefahrenabwehr sei eine zulässige Ausnahme von der Regel der vorrangigen Strafverfolgung, wenn bei Durchführung der Strafverfolgungsmaßnahmen schwerwiegende Rechtsgutgefährdungen unbeteiligter Dritter oder der Polizeikräfte drohen. Demgegenüber wird vertreten, die Wahrung des Rechts sei grundsätzlich wichtiger als die Sanktion seiner Verletzung; es bestehe also ein Vorrang der präventiven Gefahrenabwehr. Dies gelte insbesondere, wenn durch repressives polizeiliches Einschreiten eine unbeherrschbare Eskalation zu befürchten sei, da das Legalitätsprinzip zwingend dort ende, wo seine Durchsetzung größeren Schaden herbeiführen würde.10


Der Bundesgerichtshof hat sich mehrfach mit der Frage beschäftigt, ob gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen ausgeschlossen sind, wenn der Anfangsverdacht einer Straftat besteht. Konkret ging es um die Verwertbarkeit von Ergebnissen gefahrenabwehrrechtlicher Durchsuchungen, die auf dieser Basis durchgeführt worden waren, obwohl für die tätigen Zoll- bzw. Polizeibeamten auch die potentielle Verwirklichung konkreter Straftaten durch die betroffene Person ersichtlich war. Der Bundesgerichtshof hat diesbezüglich ausgeführt, es gebe weder einen allgemeinen Vorrang der Strafprozessordnung gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht noch umgekehrt. Insbesondere schließe die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen nicht aus. So dürfen Polizeibeamte auch während laufender Ermittlungen aufgrund präventiver Ermächtigungsgrundlagen zum Zweck der Gefahrenabwehr tätig werden. Etwaige hierdurch erlangte Beweismittel können dann gemäß § 161 Abs. 3 StPO im Strafverfahren Verwendung finden.11


Die Bedeutung des Legalitätsprinzips und die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, bewirken folglich, dass eine grundsätzliche Abwägung widerstreitender Interessen mit dem Gefahrenabwehrrecht nicht in Betracht kommt. Wenn Polizeibeamte also in einem Einsatz sowohl zur Gefahrenabwehr als auch unter dem Gesichtspunkt der Strafverfolgung zum Handeln verpflichtet sind, kommt ein generelles Unterbleiben repressiver Maßnahmen nicht in Betracht. Denn dem Staat ist der Verzicht auf die Verwirklichung seines Strafanspruchs einschließlich der Vollstreckung einer Strafe nur nach den dargestellten Opportunitätsgesichtspunkten möglich.12 Unabhängig hiervon ist jedoch die Frage zu beurteilen, ob ein vorübergehendes Zurückstellen etwaiger Strafverfolgungsmaßnahmen in Ausnahmesituationen möglich erscheint. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden.