Recht und Justiz

Familienrechtliche Verfahren unterlaufen zu oft strafrechtliche Ermittlungen und gefahrenabwehrende Maßnahmen nach häuslicher Gewalt

Von PD a.D. Rainer Becker und Dana Zelck, Berlin/Güstrow¹

 

5 Vorbild Frankreich


Die Verfasser konnten feststellen, dass Frankreich hier sehr viel weiter als Deutschland zu sein scheint. Während es Deutschland bei Fällen von Kindeswohlgefährdung im Sinne von § 1666 BGB in die Auslegung und das Ermessen des Gerichts stellt, ob eine derartige Gefährdung vorliegt oder nicht und worin diese besteht, legt sich Frankreich in Art. 378 1 des Code Civil sehr viel eindeutiger am Kindeswohl orientiert fest. „Geändert durch die Verordnung Nr. 2019-964 vom 18. September 2019 – Art. 35 (DV): Die elterliche Sorge kann, außerhalb einer strafrechtlichen Verurteilung, Vätern und Müttern vollständig entzogen werden, die entweder durch Misshandlung oder durch gewohnheitsmäßigen und übermäßigen Genuss von alkoholischen Getränken oder Gebrauch von Betäubungsmitteln oder durch offenkundiges Fehlverhalten oder kriminelles Verhalten, insbesondere wenn das Kind Zeuge von körperlichem oder psychischem Druck oder Gewalt wird, die von einem der Elternteile auf die Person des anderen ausgeübt werden, sei es durch mangelnde Fürsorge oder mangelnde Anweisung, die Sicherheit, Gesundheit oder Sittlichkeit des Kindes offensichtlich gefährden. Die elterliche Gewalt kann ebenfalls ganz entzogen werden, wenn gegenüber dem Kind, dem Vater und der Mutter, die mehr als zwei Jahre freiwillig auf die Wahrnehmung der ihnen überlassenen Rechte und Pflichten verzichtet haben, eine Maßnahme der Erziehungshilfe getroffen wurde Artikel 375-7. Die Klage auf vollständigen Entzug der elterlichen Gewalt wird vor Gericht erhoben, entweder von der Staatsanwaltschaft oder von einem Familienangehörigen oder dem Vormund des Kindes oder von der Abteilung für Sozialhilfe in der Kindheit, der das Kind anvertraut ist. Gemäß Artikel 36 der Verordnung Nr. 2019-964 vom 18. September 2019 treten diese Bestimmungen am 1. Januar 2020 in Kraft.“


Für die Verfasser lässt die französische Regelung es in keiner Weise an Eindeutigkeit missen. Sie kommen daher zu dem Schluss, dass beim Vorliegen von häuslicher Gewalt in jedem Einzelfall obligatorisch der Ausschluss des Umgangs mit dem gewaltausübenden Elternteil zu prüfen ist, um eine konkrete, gegenwärtig bestehende Gefährdung der körperlichen, geistigen oder seelischen Entwicklung des Kindes abzuwenden. Der Schutz und die Bedürfnisse der Kinder müssen ausnahmslos Vorrang haben. Hierbei ist aber auch erforderlich, dass der Kindeswille so weit wie möglich berücksichtigt wird. Beides ist derzeit bei einer Vielzahl familienrechtlicher Verfahren nicht wahrzunehmen. Zwischen dem (die Mutter) schlagendem Elternteil und dem betroffenen Kind darf es keinen Umgang geben, solange die strafrechtlichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Mütter, die ihr Kind schützen, darf die dann häufig von Amts wegen attestierte vermeintliche Bindungsintoleranz bei Sorge- und Umgangsrechtsfragen nicht mehr benachteiligen, wie es derzeit immer noch in einer Vielzahl von Fällen geschieht. Faktisch wären sie gerichtlich bzw. behördlich angeordneten gefährdenden Kontakten zum gewalttätigen Elternteil schutzlos ausgeliefert. Die in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt tätig gewordene Polizei kann hierzu beitragen, wenn sie proaktiv auf entscheidungsrelevante Fakten für einen Umgangsausschluss bis auf weiteres in Ihren Berichtskopien an das zu ständige Jugendamt und auch an das Familiengericht hinweist. Gewöhnlich sind Familiengerichte für derartige Hinweise so früh wie möglich dankbar.

 

6 Kritik von den UN


In diesem Zusammenhang kritisiert die UN-Sonderberichterstatterin gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, Reem Alsalem, dass immer noch weltweit angewendete Entfremdungssyndrom „PAS“. So heißt es im kürzlich veröffentlichten Bericht zur 53. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates: „Die unwissenschaftliche Praxis in Sorgerechtsverfahren hat weltweit unzähligen Müttern und Kindern unbeschreibliches Leid zugefügt.“ Die jahrzehntelange Anwendung des Entfremdungssyndroms PAS, so heißt es weiter, beruhe auf einer Pseudotheorie. Basis dieser Einschätzung der UN-Sonderberichterstatterin gegen Gewalt an Frauen und Mädchen ist ihre Auswertung von mehr als eintausend Sorgerechtsverfahren. In ihrem Bericht kommt Alsalem zu dem Ergebnis, dass (neben sexuellem Missbrauch an Kindern und Kinderpornografie) häusliche Gewalt von staatlichen Behörden und von der Justiz in Sorgerechtsverfahren oft gänzlich ignoriert werden.15 Mit dem aktuellen Bericht ergeht der dringende Appell an Politik und Justiz, GutachterInnen, Verfahrens- und Rechtsbeistände, das Pseudosyndrom PAS nicht länger anzuwenden.


In der von der UN- Sonderbeauftragen konstatierten missbräuchlichen Verwendung der PAS- Leitsätze sieht die Deutsche Kinderhilfe einen schweren Verstoß gegen die Istanbul-Konvention. Die Verfasser weisen darauf hin, dass die Verwendung des Begriffs PAS in Deutschland zwar allmählich rückläufig zu sein scheint, gleichzeitig aber unter der „neuen“ Bezeichnung „EKE“ (Eltern-Kind-Entfremdung) mit gleichen Textbausteinen immer noch in Gutachten und Beschlüssen der Familiengerichte zu finden ist. Am 17. November 2023 stellte das Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1076/23 RDN 34 klar: „Mit der vom Oberlandesgericht herangezogenen Eltern-Kind-Entfremdung wird auf das überkommene und fachwissenschaftlich als widerlegt geltende Konzept des sogenannten Parental Alienation Syndrom (kurz PAS) zurückgegriffen. Das genügt als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung nicht. Soweit ersichtlich besteht nach derzeitigem Stand der Fachwissenschaft kein empirischer Beleg für eine elterliche Manipulation bei kindlicher Ablehnung des anderen Elternteils oder für die Wirksamkeit einer Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt des angeblich manipulierenden Elternteils (vgl. umfassend Zimmermann/Fichtner/Walper/Lux/Kindler, in: ZKJ 2023, S. 43 ff., und dies. in: ZKJ 2023, S. 83 ff.).“

 

7 Schluss


Die Jugendämter und Familiengerichte in Deutschland müssen die Istanbul-Konvention endlich uneingeschränkt umsetzen. Dazu gehört zunächst einmal das Bewusstsein, dass es bei ihren Entscheidungen, um das Kindeswohl zu gehen hat und nachrangig um das Wohl betroffener Eltern. Dass es nicht ausreicht, § 1666 BGB im Sinne der Istanbul-Konvention auszulegen zu versuchen, hat die Praxis der Jugendämter und Familiengerichte mittlerweile in zu vielen Fällen bewiesen. Aus diesem Grunde ist die Bundesregierung gefordert, ähnlich wie Frankreich gesetzlich angemessen nachzubessern. Dafür und weiterhin bedarf es in Deutschland mehr zielgerichteter Forschung. Es kann und darf nicht länger sein, dass sich Verantwortliche in Politik, Justiz und Verwaltung länger auf eine fehlende Datenlage zurückziehen, um die beschrieben Probleme zu verleugnen. Auch dies ist in Art. 11 der Istanbul-Konvention geregelt. Die Konvention bedarf in Deutschland endlich der Anerkennung, die ihr gebührt.16


Bildrechte: ProPK.