„Herr X ist leider verhindert“
Von den Besonderheiten des Einsatzes von Vertrauenspersonen und deren Sperrerklärungen für die Hauptverhandlung
3.3.2 Beweisrechtlicher Ausgangspunkt des Umgangs mit der gesperrten VP
Befindet sich das Gericht nun in der Situation, durch die Sperrerklärung an der Vernehmung der VP selbst gehindert zu sein, bedeutet dies nicht, dass es auf die Erkenntnisse aus dem Einsatz der VP verzichten müsste. Die Sperrerklärung zwingt – wie der BGH vorliegend entgegen der Auffassung des Tatgerichts betont – nicht etwa dazu, ein Verwertungsverbot hinsichtlich der Erkenntnisse der VP anzunehmen.33 Vielmehr ist es zulässig – und mit Blick auf die Amtsaufklärungspflicht auch geboten –, die Erkenntnisse auf anderem Wege als durch die Vernehmung der VP einzuführen (sog. Beweissurrogate). Das typische Vorgehen besteht darin, den VP-Führer dazu zu vernehmen, welche Angaben die VP ihm gegenüber gemacht hat. Das deutsche Strafprozessrecht lässt solche mittelbaren oder „Zeugen vom Hörensagen“ grundsätzlich zu. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO verbietet lediglich, den Zeugen- durch den Urkundenbeweis zu ersetzen, enthält aber keine Regel für die Auswahl unter mehreren Zeugen.34 Diese ist vielmehr allein nach Maßgabe der Amtsaufklärungspflicht zu treffen, die zwar regelmäßig die Vernehmung des unmittelbaren Zeugen diktiert, die des mittelbaren aber nicht generell ausschließt.35 Daneben kommt auch die Verlesung von Vernehmungsprotokollen gem. § 251 Abs. 1 Nr. 3 in Betracht.36 Problematisch ist die Verwendung von Beweissurrogaten einerseits aufgrund des Verlusts der Beweisqualität, da der mittelbare Zeuge eben keine eigene Wahrnehmung schildert, sowie andererseits, weil es den Beschuldigten in den Verteidigungsmöglichkeiten einschränkt, da es ihm – bzw. seinem Verteidiger – die Möglichkeit nimmt, den unmittelbaren Zeugen selbst zu befragen, um so die Glaubhaftigkeit der Angaben zu überprüfen. Um den sich hier ergebenen Risiken effektiv zu begegnen, hat die Rechtsprechung besondere Regelungen zum Umgang mit der Konstellation des gesperrten oder aus anderen Gründen nicht verfügbaren Zeugen entwickelt.
3.4 Das Konfrontationsrecht
3.4.1 Grundlagen
Das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen (sog. Konfrontationsrecht), ist ausdrücklich in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK als Mindestgarantie eines fairen Verfahrens normiert. Zwar gilt die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag nur im Rang eines Bundesgesetztes (Art. 59 Abs. 2 GG) und der ihre Einhaltung überwachende EGMR hat nicht die Kompetenz, Urteile aufzuheben37, sondern kann die Vertragsstaaten lediglich zu Schadensersatzzahlungen verurteilen (Art. 41 EMRK). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) folgert in ständiger Rechtsprechung aus der „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ aber ein verfassungsrechtliches Gebot, die Vorgaben der EMRK – in ihrer Ausformung durch die Rechtsprechung des EGMR – bei der Anwendung des einfachen Rechts zu beachten.38 Zudem wird das Recht auf ein faires Verfahren auch als eigenständiges von der EMRK unabhängiges Verfassungsprinzip anerkannt.39
Der EGMR bestimmt die Verletzung der Garantie des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) stets anhand einer einzelfallbezogenen Gesamtschau des Verfahrens, sodass sich seiner Rechtsprechung nur schwer Aussagen entnehmen lassen, die über den Einzelfall hinausgehende Gültigkeit beanspruchen40. Bei der Feststellung von Fairnessverstößen aufgrund der Verletzung des Konfrontationsrechts berücksichtigt er insbesondere41, ob ein sachlicher Grund für die Beschränkung des Konfrontationsrechts besteht, ob die hierdurch entstehenden Nachteile durch kompensierende Maßnahmen ausgeglichen wurden und ob das Beweismittel für die Verurteilung wesentlich war.42 Der BGH übernimmt diese – teilweise als „3-Stufen-Theorie“ bezeichneten43 – Kriterien und formuliert regelmäßig, es komme darauf an, ob die Nichtgewährung des Konfrontationsrechts im Zurechnungsbereich der Justiz liegt (hierzu unter 3.4.2), mit welchem Gewicht die Verurteilung des Angeklagten auf die Bekundungen eines nicht konfrontativ befragten Zeugen gestützt worden ist (3.4.3) und ob das Gericht die Unmöglichkeit der Befragung des Zeugen durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger kompensiert habe (3.4.4).44
3.4.2 Staatliche Zurechnung
Im ersten Schritt unterscheidet der BGH danach, ob es der Justiz zurechenbar ist, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann. Die Sperrerklärung entstammt offensichtlich der staatlichen Sphäre und begründet daher eine solche Zurechnung.45 Des Weiteren sind hier insbesondere Auskunfts- (§ 55 StPO)46 und Zeugnisverweigerungsrechte (§ 52 StPO)47 sowie der Tod48 und der unbekannte Aufenthalt des Zeugen praktisch geworden. Während die drei erstgenannten Aspekte der Justiz offensichtlich nicht zuzurechnen sind49, kommt es bei dem unbekannten Aufenthalt darauf an, ob der Staat alles Erforderliche unternommen hat, um den Aufenthaltsort zu ermitteln50 oder es unterlassen hat, eine Vernehmung durchzuführen, solange diese noch möglich war51.
Die Relevanz dieser Unterscheidung dürfte jedoch nicht zu überschätzen sein. Der erweckte Eindruck, nach dem für von der Justiz zu vertretende und nicht zu vertretende Hindernisse unterschiedliche Maßstäbe gälten, finden durch den Vergleich entsprechender Entscheidungen keine Bestätigung. Vielmehr fordert der BGH ausdrücklich unabhängig von der Frage der Zurechnung eine sorgfältige und kritische Überprüfung der Angaben.52
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