Editorial Dezember 2012
Liebe Leserin,
lieber Leser,
in Deutschland, dem bevölkerungsreichsten Land der Europäischen Union mit rund 82 Millionen Einwohnern, vollzieht sich ein bedeutender demografischer Wandel. Die Bevölkerung geht deutlich zurück, der Anteil älterer Menschen und nationaler Minderheiten nimmt kontinuierlich zu. Die meisten der Arbeitsmigranten, die in den 1950er-Jahren zunächst als so genannte „Gastarbeiter“ zu uns gekommen sind, kehrten in ihre süd- und südosteuropäischen Heimatländer zurück. Viele sind aber auch zum Leben und Arbeiten in Deutschland geblieben. Deutschland hat sich allmählich von einem Gastarbeiterland zu einem Land mit gesteuerter Zuwanderung entwickelt.
Herbert Klein
Ltd. Kriminaldirektor, Polizeipräsidium Rheinpfalz, Chefredakteur
Nach den Aussiedlern stellen die Zuwanderer aus der Türkei mit 2,5 Millionen die größte Gruppe, weitere 1,5 Millionen stammen aus dem früheren Jugoslawien oder dessen Nachfolgestaaten. Die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime wird auf vier Millionen geschätzt. Bei der Integration in den vergangenen beiden Jahrzehnten sind Fortschritte erzielt worden: Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit wurde gesetzlich erleichtert, die Kontakte zwischen Migranten und Deutschen sind intensiver, die Akzeptanz der ethno-kulturellen Vielfalt hat zugenommen. Gleichwohl gilt es weiterhin im Blick zu halten, dass Migranten eine eigene Kultur, Sprache, Geschichte und Identität haben. Dies bereichert zweifelsfrei die deutsche Kultur, bringt allerdings auch Verhaltensmuster mit sich, die mit unserem Menschenbild und Rechtsverständnis nicht in Einklang stehen und bis zur Begehung schwerster Straftaten reichen.
Vor diesem Hintergrund befasst sich Dr. Florian Edinger aus Hofheim am Taunus in seinem Beitrag „Zwangsverheiratung – ein Überblick über tatsächliche und rechtliche Aspek-
te“ mit einer speziellen Problematik ausländischer Kulturen. Einleitend stellt er fest, dass Zwangsverheiratung unter anderem gegen das Menschen- und Grundrecht auf freie Partnerwahl verstößt und strafbar ist. Es handelt sich um ein komplexes Geschehen in zahlreichen möglichen Varianten, das eine Reihe von Rechtsfragen berührt. Er geht auf die Formen und die Verbreitung von Zwangsverheiratung in Deutschland, beispielsweise auf die Zwangsverheiratung als Gewalt in engen sozialen Beziehungen, ein. Mit der Einwanderung aus Herkunftsgebieten haben Fälle von Zwangsverheiratung genauso zugenommen wie Fälle von Gewalt in engen sozialen Beziehungen insgesamt. Frauen mit Migrationshintergrund erfahren demnach im Durchschnitt häufiger Dominanz, Unterdrückung und Gewalt in ihrer Partnerschaft als einheimische deutsche Frauen. Wenn es um die gewaltsame Durchsetzung des Willens der Eltern geht, finden sich im Umfeld Kindesmisshandlung und Misshandlung und Vergewaltigung der Ehefrau bis hin zu so genannten Ehrenmorden, die richtigerweise als Unterdrückungsmorde bezeichnet werden. Die Opfer von Zwangsverheiratung sind ganz überwiegend Frauen, vereinzelt aber auch Männer. Gleichzeitig muss man in der Regel auch die Kinder, die aus solchen Zwangsehen hervorgehen, als Opfer gewalttätiger Familienverhältnisse ansehen. Gewalt spielt ferner nicht nur bei der Wahl des Ehepartners eine Rolle, sondern auch bei der Abwehr unerwünschter Beziehungen von Familienangehörigen. So sind oft auch die von der Familie nicht erwünschten Partner von Gewalt bedroht. Weiterhin beleuchtet Dr. Edinger den Aspekt Zwangsverheiratung und Religion, insbesondere den Islam. Er sieht im Islam einzelne rückschrittliche Strömungen, die eine untergeordnete Stellung der Frauen, Unterdrückung und Gewalt in Familie und Erziehung bis hin zur Zwangsverheiratung religiös-ideologisch zu rechtfertigen versuchen. Zusammenfassend stellt er fest, dass Zwangsverheiratung nur ein Ausschnitt aus der vielfältigen Gewalt in engen sozialen Beziehungen in Deutschland ist. Sie ist letztlich ein Ausdruck mangelnder Integration und eignet sich in keinem Fall zur Stigmatisierung von Einwanderern oder Religionen. Staatliche Stellen dürfen in Fällen von (drohender) Zwangsverheiratung nicht wegsehen, sondern sind verpflichtet, für professionelle Unterstützung der Opfer zu sorgen, schon im Hinblick auf den Schutz von Frei-
heit, Gesundheit und Leben der Betroffenen.
Das von Dr. Edinger beschriebene Phänomen dürfte auch für die Polizei zunehmend relevant werden und besondere Herausforderungen mit sich bringen. Neben der Aus- und Fortbildung wird sich weiterer Handlungsbedarf bei der Zusammenarbeit mit anderen staatlichen Stellen ergeben, was über die Strafverfolgung alleine und damit über die Staatsanwaltschaften hinausreicht.
Herbert Klein
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