Editorial Juni 2011
Liebe Leserin,
lieber Leser,
ein Bahnhof schreibt offenbar Politikgeschichte: Stuttgart‘21. Erst vor wenigen Wochen haben sich die Wählerinnen und Wähler in Baden-Württemberg für eine neue Landesregierung entschieden, die erstmals von einem „grünen„ Ministerpräsidenten geführt wird. Die über Monate währende Diskussion und die Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern des milliardenschweren Verkehrs- und Städtebauprojekts „Stuttgart’21„ haben nicht nur ein offenbar tiefgreifendes Kommunikationsproblem offen gelegt, sondern in der Folge angesichts der Wahlentscheidung die politische Landschaft deutlich verändert. Die Ereignisse hatten auch eine polizeiliche Facette, die in der veröffentlichten Wahrnehmung durch Wasserwerfer, Schlagstockeinsatz und Verletzte auf beiden Seiten gekennzeichnet war. Vor diesem Hintergrund haben uns die Ursachen für diese Entwicklung interessiert und wir haben den Politikwissenschaftler und Vizepräsidenten der Universität Koblenz-Landau, zu der Thematik interviewt. „Überwindung der Kommunikationskrise. Was man für die Modernisierung der Demokratie aus Stuttgart’21 lernen kann„, fasst Prof. Dr. Sarcinelli seine beachtenswerte verfassungsrechtliche und politische Beurteilung der Vorgänge zusammen- Er nimmt unter anderem Stellung zum Ausgangspunkt des Konflikts, zu der langwierigen Schlichtung, bis hin zum polizeilichen Einsatzgeschehen.
Manfred Paulus, Erster Kriminalhauptkommissar a.D, aus Ulm/Donau war bis zum Jahr 2003 Leiter der Kriminalinspektion in Ulm. Über 25 Jahre hat er sich insbesondere mit der Bekämpfung von „Rotlicht- und Organisierter Kriminalität„ befasst. In dem gleichnamigen Beitrag leitet er seinen Situationsbericht mit der beunruhigenden Feststellung ein, dass das öffentliche Interesse an der Entführung und Verschleppung junger Osteuropäerinnen und an ihrer Ausbeutung in den Sexzentren der westlichen Welt nachgelassen hat.
Der Handel mit der Ware Frau von Ost- und Südost- nach Westeuropa ist keine Schlagzeilen mehr wert, scheint wie verbannt aus Tagesschau und Tagesthemen. Auch in der politischen Diskussion spielt das unangenehme Thema in Deutschland nur noch eine untergeordnete oder auch gar keine Rolle mehr, so Paulus. Neben dem öffentlichen, medialen und politischen Interesse scheint es, als habe auch das Engagement der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden spürbar nachgelassen. Verwundern würde das nicht: Waren doch nach allzu vielen Urteilen, denen langwierige und aufwändige Ermittlungsverfahren wegen (Schweren) Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung oder Zuhälterei vorausgingen, auf Täterseite Party und Champagner und bei den Ermittlern Frust, Entsetzen und gelegentlich auch Resignation angesagt. Paulus‘ Lagebeschreibung ist unter anderem durch die Feststellung gekennzeichnet, dass es in Deutschland zwischenzeitlich viele Milieus gibt, die größtenteils unabhängig voneinander agieren, teilweise aber auch miteinander verbunden sind, sich unterstützen oder bekämpfen. Zu jedem Milieu gehören Zuhälter, Prostituierte, Mieter, Vermieter, kleine und große Bosse, Ausbeuter und Ausgebeutete, Gehilfen, Gummi- und Pfandflaschensammler, menschliche Wracks. Zunehmend aber auch Anwälte, Betriebswirtschaftler, „seriöse„ Geschäftemacher in feinstem Zwirn, Erpresser und Erpresste, Korrumpierende und Korrumpierte, so seine Feststellungen. 400 000 bis 500 000 Frauen bedienen in Deutschland die Nachfrage von Freiern, die sich aus allen gesellschaftlichen Schichten rekrutieren. Gut die Hälfte der Sexarbeiterinnen, örtlich sind es bis zu 80%, sind Ausländerinnen und von den „Deutschen„ haben nicht wenige einen Migrationshintergrund. Nach den Erfahrungen von Manfred Paulus gibt es bei den notwendigen Maßnahmen kein Patentrezept. Auch gibt es nach all dem, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten in naiver, gutgläubiger oder grob fahrlässiger Weise hingenommen und gestaltet wurde, keine schnelle, wirksame Lösung. Gleichwohl beschreibt er eine eine Vielzahl von erforderlichen Maßnahmen, die miteinander verbunden zu einem Abwehrsystem reifen müssen, welches geeignet ist, den Herausforderungen wirksam zu begegnen.
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