Kriminalität

Außer Kontrolle

– Über die Freiheiten und die (Kriminalitäts-)Entwicklung in den bundesdeutschen Rotlichtmilieus –

Von Manfred Paulus, Erster Kriminalhauptkommissar a. D., Ulm/Donau

Ein paar Außenansichten


Die Wege sind holprig und steil. Sie führen hinauf in die Berge, hoch über Tirana. Wegzeiger, Hinweisschilder, Markierungen, gibt es schon lange nicht mehr und es scheinen gute Ortskenntnisse erforderlich, um hier zu einem bestimmten Ziel oder wieder zurück in die Hauptstadt zu finden. Plötzlich in einer Senke ein verstecktes, mit Stacheldraht umzäuntes und von bewaffneten Sicherheitskräften bewachtes Areal mit zwei alten Häusern, in denen ein gutes Dutzend junger, albanischer Frauen untergebracht ist – Opfer des Menschenhandels und der Sexsklaverei. Das Innenministerium des Landes hat sie im Rahmen von Opferschutzmaßnahmen hier untergebracht. Diese stehen wiederum im Zusammenhang mit EU-Vorgaben für die angestrebte Mitgliedschaft Albaniens in der europäischen Gemeinschaft. Hier oben in den Bergen lernen die jungen Frauen den Beruf einer Friseurin oder den einer Schneiderin. Das sind Tätigkeiten, mit denen sich in Albanien Geld verdienen lässt. Dann, wenn sie einmal keine Angst mehr haben, nicht mehr fliehen und um ihr junges Leben bangen müssen…
 

Ihre „Besitzer“ und Ausbeuter, Mitglieder krimineller Banden, Menschenhändler und Zuhälter, haben sich aufgemacht, nach ihnen zu suchen. Sie wollen sie wieder dahin zurückbringen, wo sie einst waren und von wo aus sie geflohen sind: Nach Deutschland oder nach Österreich. Sie wollen die jungen Frauen weiterhin als Sexsklavinnen ausbeuten und es ist zu befürchten, sie wollen Rache üben. Sie wollen ein Zeichen setzen, dass Flucht nicht geduldet wird und sie sind, sofern erforderlich, auch bereit, die jungen Frauen als lästige Zeuginnen aus der Welt schaffen, zu entsorgen. Um das zu verhindern, wurden sie hierher in Sicherheit gebracht – soweit es hier Sicherheit geben kann und Sicherheit gibt.
Schmutz, Dreck, Elend, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein, Angst, Drohungen, Gewalt, Drogen, widerliche Freier, perverseste Praktiken… Elina, 19 Jahre jung und eine der in den Bergen Albaniens versteckten Frauen, fährt nervös durch ihr langes, blauschwarzes Haar und erzählt von ihrem Horrortrip, der sie von Albanien über Kosovo nach Deutschland und in die Sexzentren mehrerer deutscher (Groß-)Städte geführt hat.
Sie gleicht dabei plötzlich einer alten, verlebten Frau. Ihr hübsches Gesicht wirkt fahl, die Züge sind bitter ernst. Ein Schleier von Trauer und Resignation liegt über ihr und in den klaren, dunklen Augen bilden sich Tränen. Dann blickt sie plötzlich auf. Für einen Moment wirkt sie fordernd, stolz, kämpferisch.
„Warum gibt es so etwas in ihrem Land? Warum kann und darf es so etwas in Deutschland geben?“
Die Fragen gleichen Messerstichen, sie machen betroffen und sie beschämen.
„Auch wir sind traurig, dass es so etwas in Deutschland gibt…“ kommt verhalten eine Antwort, die keine Antwort ist.
Bei Gesprächen mit Angehörigen der Polizei, der (Kriminal-)Miliz oder mit Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und in den südosteuropäischen Rekrutierungs- und Transitländern der Ware Frau und Kind wird immer wieder deutlich, dass man dort sehr wohl weiß, was mit den Opfern des Menschenhandels in den bundesdeutschen Rotlichtvierteln, in Bars, Bordellbetrieben und auf den Straßenstrichs, geschieht. Die Rückkehrerinnen, maßlos enttäuschte, der Hölle bundesrepublikanischer Sexmärkte entflohene, oft völlig verzweifelte und aufgelöste, nicht selten schwer traumatisierte Frauen berichteten davon. In Albanien wie in Bulgarien und Rumänien, in Weißrussland und der Republik Moldowa wie in der Ukraine…
Und man weiß in all diesen Ländern auch, was mit den Tätern hierzulande nicht geschieht: Dass sie weitgehend risikolos agieren können, zumeist unverfolgt bleiben und dass kaum einmal ein angemessenes Urteil gegen sie ergeht. Man nimmt es mit Unverständnis, nicht selten mit Empörung und mit Verachtung zur Kenntnis.
Bemerkenswert erscheint, dass sich dieser, mit Hinblick auf die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern miserable Ruf der Bundesrepublik Deutschland keineswegs nur auf die ost- und südosteuropäischen Rekrutierungsländer der Opfer beschränkt. Die in Deutschland vielfach gewährte Toleranz, die Duldung oder gar Förderung entwürdigender Sexpraktiken in den entsprechenden Milieus und die wenig erfolgreiche Bekämpfung der Kriminalität im Schatten bundesdeutschen Rotlichts löste in der Vergangenheit zum Beispiel auch Irritationen und Verwunderung bei unserem Nachbarn Frankreich aus. 
Dort verfolgt man seit langem ganz andere, im Vergleich zur BRD geradezu gegensätzliche Strategien und eine höchst restriktive Politik den in weiten Teilen kriminellen Sexmärkten gegenüber. Während Zuhälterei im deutschen Strafgesetzbuch mit einem ähnlichen Strafmaß wie das Unerlaubte Entfernen vom Unfallort bedroht ist und seit Inkrafttreten des Prostitutionsgesetzes von 2002 in vielen Fällen überhaupt nicht mehr angeklagt wird, hat Frankreich in § 225 des Code Penal klare Kriterien zur Verfügung, nach welchen Zuhälterei mit am härtesten von allen Staaten dieser Welt bestraft werden kann und auch bestraft wird. Deshalb agieren Zuhälter zur Verärgerung Frankreichs von idyllischen, deutschen Rheinstädtchen aus, um ihre Opfer zum Beispiel von Kehl aus über die Europabrücke ins französische Straßburg zu treiben, wo diese den Straßenstrich bereichern. Auch diesen Straßenstrich, ein letztes Überbleibsel vom einstigen „Land der freien Liebe“, wollte Sarkozy während seiner Zeit als Innenminister im Jahre 2003 abschaffen, was freilich nicht gelang. Es scheiterte, so wie alle Versuche, die Prostitution abzuschaffen, im Verlauf der Jahrhunderte und der Menschheitsgeschichte scheiterten.
Die Bestrebungen, das Sexbusiness auf ein kontrolliertes Mindestmaß zu beschränken und Rotlichtkriminalität ebenso wie die damit untrennbar verbundene Organisierte Kriminalität (OK) in all ihren Facetten zu verhindern und wirksam zu bekämpfen, betreibt Frankreich jedoch unbeirrt weiter.
Auch in den USA beobachtet man sehr genau, was in Deutschland vor sich geht und man spricht gelegentlich sogar vom „Land des Bösen“, wenn von den Freiheiten die Rede ist, welche hierzulande den Rotlichtmilieus und damit auch Menschenhändlern, Zuhältern, der Organisierten Kriminalität (OK) eingeräumt werden, während die Sexsklavinnen und Opfer, auch solche schwerster und übelster Verbrechen, häufig allein und im Stich gelassen werden.
In den Vereinigten Staaten von Amerika ist Prostitution – bis auf wenige Ausnahmen – verboten. Die Philosophie des US-amerikanischen Prostitutionsverbots ist unter anderem der „National Security Presidential Directive“ zu entnehmen. Demnach wird Prostitution als grundsätzlich schädlich angesehen. Eine Legalisierung, so wird festgestellt, leistet dem Menschenhandel und der Zuhälterei Vorschub und entsprechende Milieuobjekte sind nichts als Fassaden, hinter denen sich Ausbeutung und Kriminalität entwickeln. Nach einer in der wissenschaftlichen Publikation „Journal for Trauma Practice“ veröffentlichten, US-amerikanischen Studie

  • geht die Mehrheit der Prostituierten nicht freiwillig der Prostitution nach,
  • sind 89 % von ihnen mehr oder weniger verzweifelt und wollen aussteigen,
  • werden bei einer Legalisierung trotz aller Gegenmaßnahmen auch immer wieder Kinder ausgebeutet,
  • werden zwischen 60 und 75 % der Prostituierten einmal oder mehrfach vergewaltigt,
  • sind 70 – 95 % der Frauen im Prostitutionsmilieu tätlichen Angriffen ausgesetzt,
  • leiden 68 % der Prostituierten an posttraumatischen Störungen, die denen von Kriegsveteranen oder Folteropfern gleichkommen.

Festgestellt wird auch, dass eine Legalisierung der Prostitution zwangsläufig eine Ausweitung der Sexmärkte und, damit verbunden, zunehmende Kriminalitätsraten mit sich bringt. Dennoch: Auch die USA sind keineswegs frei von Prostitution (sie ist in elf Countries Nevadas sogar erlaubt) und die Vereinigten Staaten sind auch nicht frei von Menschenhandel und Zuhälterei. Lateinamerikanische und osteuropäische Verbrecherbanden und Syndikate schleppen Frauen auch ins „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ und führen sie dort der Prostitution zu. Diese illegale Prostitution wird in den USA aber mit allen zur Verfügung stehenden, manchmal höchst unkonventionellen und ungewöhnlichen Mitteln bekämpft. So werden z. B. auf Straßen wie im Internet „Honeypots“ eingesetzt („Honigtöpfchen“ aufgestellt). Attraktive Polizistinnen in Zivil bieten sich an. Erklärt sich ein potenzieller Freier bereit und bezahlt den vereinbarten Preis, wird ihm auch gleich die Festnahme erklärt. 

Bei diesen Betrachtungsweisen und Gegebenheiten verwundert nicht, dass die in Deutschland gegebenen und eher mehr als weniger geduldeten Verhältnisse auch in den USA auf größtes Unverständnis stoßen.
Doch nicht nur in den ost- und südosteuropäischen Rekrutierungsländern der Ware Frau und Kind und dazu in Frankreich und den USA stehen deutsche Toleranz und Praktiken im Umgang mit den Milieus im Rotlicht in der Kritik.
Auch eine junge, thailändische Journalistin der „Bangkok Post“ (die größte, englischsprachige Zeitung Thailands) berichtete über die hässlichen Deutschen und von der sexuellen Ausbeutung der anmutigen Frauen und der unschuldigen Kinder des Landes – in deutschen Puffs wie am Golf von Siam.
Und der Bürgermeister des tschechischen Grenzstädtchens Cheb beklagte sich in der Vergangenheit wiederholt und nicht zu Unrecht über den weltweit schlechten Ruf seiner Stadt. Er vergisst dabei niemals anzumerken, dass dieser weniger seinen Landsleuten als den Deutschen (Freiern und Pädokriminellen) zu verdanken sei…
Diese und ähnliche, kritische Außenansichten über die Situation und den Umgang der Deutschen mit der Prostitution und den Prostitutions- oder Rotlichtmilieus werden ergänzt und bestätigt dadurch, dass sich Zuhälterbanden und -cliquen aus aller Welt nach Deutschland eingeladen fühlen und dass sich die viel beschriebene und zurecht gefürchtete Organisierte Kriminalität veranlasst sieht, in zunehmendem Maße in den bundesdeutschen Rotlichtmilieus zu investieren!Die deutsche Prostitutionslandschaft der Gegenwart, die Milieus im Rotlicht werden, nicht zuletzt verursacht durch anhaltendes Gewähren lassen und täterfreundliche Gegebenheiten, längst in weiten Teilen und auch nicht mehr nur in Berlin sondern bundesweit von vielfach der Organisierten Kriminalität (OK) zuzuordnenden Gruppierungen gelenkt und beherrscht. So von

  • albanischen Clans (von der albanischen Mafia),
  • der russischen Mafia (zahlreiche kleinere und größere Gruppierungen und Organisationen),
  • von Balkan-Syndikaten,
  • von ukrainischen Banden,
  • von Arabern (von libanesischen Clans),
  • von türkischen Gruppierungen,
  • von litauischen Brigaden,
  • von bulgarischen Zuhälterbanden,
  • von Nigerianer(inne)n,
  • von Rockergruppierungen (Hells Angels)

und anderen, ähnlich strukturierten und nicht weniger kriminellen Organisationen.
Die für die Bekämpfung der „Kriminalität im Zusammenhang mit dem Nachtleben“ zuständigen Dienststellen der deutschen Polizei warnen seit Jahren vor den Entwicklungen in den deutschen Milieus, vor der immer mehr im Dunkelfeld stattfindenden Rotlicht- und der fortschreitenden Organisierten Kriminalität.
Auch Roberto Scarpinato, Leiter des Pools von Staatsanwälten, der in Palermo und von Palermo aus seit Jahrzehnten die italienische Mafia bekämpft (er arbeitete schon mit dem legendären Richter Falcone zusammen, der 1992 von der Mafia in die Luft gejagt wurde und er hievte den italienischen Staatspräsidenten Andreotti aus dem Amt, indem er ihm Mafia-Kontakte nachwies) und der als einer der profiliertesten Mafiakenner und -jäger dieser Welt gilt, warnt Deutschland und die Deutschen seit Jahren so eindringlich wie vergebens vor dem Eindringen dieser Organisierten Kriminalität ins bundesdeutsche Rotlicht und darüber hinaus in die Gesamtgesellschaft.
Die Deutschen tun noch immer so, als wäre die Mafia ein Problem der Türken, Italiener, Japaner oder Chinesen…, haben sie wirklich nicht bemerkt, dass die deutschen Luden verdrängt wurden, dass Andere übernommen haben – solche, die fraglos der Organisierten Kriminalität oder der Mafia (beides unterscheidet sich allenfalls strukturell) zuzuordnen sind…?
Solche bemerkenswerten Außenansichten und Einschätzungen der Entwicklungen und des Geschehens im bundesdeutschen Rotlicht zeichnen übereinstimmend ein höchst negatives Bild. Und sie zeichnen ein geradezu desaströses Bild, was die Einschätzung des politischen und daraus resultierenden, polizeilichen und juristischen Umgangs mit den Gegebenheiten und den Herausforderungen betrifft.
Sind diese kritischen Einschätzungen und Feststellungen gerechtfertigt und besteht hinsichtlich des Umgangs mit der Prostitution und den entsprechenden, in weiten Teilen fraglos kriminellen Milieus tatsächlich Änderungs- und Nachholbedarf?

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